Timanfaya: Song meines Lebens

Depeche mode - "In your room"

frühjahr 2002. ich war auf dem höhepunkt meines lebens angekommen. eine langjährige beziehung seit der schulzeit, ein spätstudium parallel zu einer halben stelle in mindestzeit und danach einen job, den man normalerweise erst bekommt, wenn man mindestens zehn jahre älter ist. es fehlten also nur noch haus und kinder, dann wäre das lebensprogramm fertig gewesen und man hätte sich den unterhaltsamen nebensächlichkeiten hingeben können. alles war perfekt.

wie so oft zu dieser zeit saß ich eines abends in meinem sündhaft teueren dezent durchgestylten büro und suchte irgendwas im internet. durch einen falsch gesetzten mausklick landete ich auf der seite einer interaktiven dating comunity. bis dahin war so was für mich als relativer internet neuling völlig unbekannt. ich wusste nicht einmal, dass es so was überhaupt gibt. irgendwie schon eine spannende angelegenheit. da ja alles perfekt war siegte meine neugier. ein paar tage später legte ich ein profil an um mich mal ein wenig umzusehen. alles war natürlich höchst aufregend und völlig undurchsichtig für mich. wer mit wem, warum und wieso. nach bereits wenigen tagen begann mein interesse an einem bestimmten weiblichen profil. es war recht wenig auf ihrem profilbild zu erkennen was zuverlässige rückschlüsse auf ihre optik zugelassen hätte, aber das spielte virtuell im prinzip eh keine rolle. ich war fasziniert. es war ihre besondere, sehr eigene art, wie sie gedanken und gefühle formulierte. faszinierend ungewöhnlich halt. wochenlang schlich ich um ihr profil um endlich einen ansatzpunkt für eine möglichst beiläufige virtuelle kontaktaufnahme zu suchen. war ja nix dabei, alles war ja nach wie vor perfekt und ihr wohnort war ohnehin viele hundert kilometer entfernt.

es kam, wie es kommen musste. der kontakt kam zu stande. und wanderte zunehmend vom oberflächlicheren - weil öffentlich lesbaren - in den intimeren nichtöffentlichen bereich. mein persönliches interesse nahm von tag zu tag spürbar zu. da ich zu diesem zeitpunkt aus beruflichen gründen eine wochenendbeziehung führte, wurden auch die nächtlichen mail kontakte immer lang und länger, der schlaf immer kürzer und die tastatur meines notebooks von woche zu woche blanker. erstaunlich eigentlich, denn auch ihr leben war perfekt und im prinzip ein spiegelbild des meinigen. die zeit stand still, in meinem leben regte nichts anderes mehr mein interesse. mein drang zu ihr wurde immer unzähmbarer. irgendwann war es klar: ich wollte sie sehen. nur ein einziges mal. ein zwang, dem ich irgendwann nichts mehr entgegenbringen konnte. wenn ich es denn gewollt hätte. sehnsucht. zu einem zeitpunkt, als dies doch eigentlich gar nicht möglich war. ich nahm all meinen mut zusammen und trug ihr – natürlich recht unverbindlich, denn alles war ja immer noch perfekt - mein anliegen vor.

ich war wohl der glücklichste mensch in diesem universum, als sie im prinzip direkt zusagte. da war dann "nur" noch das wie und das wo zu klären. nur noch, ha! genau darüber hatte ich mir vorher überhaupt keine gedanken gemacht. aufgrund der entfernung war eine kaffeeeverabredung natürlich etwas lasch. ich überlegte mir einen knoten in den kopf, was für dieses einmalig angedachte ereignis das beste umfeld., die beste situation wäre. ich erforschte meine gefühle. ich wog ab, überlegte, überdachte meine situation und schob im prinzip ohne zögern alle moralischen hürden bei seite. da ich im leben fast immer die barfuß- oder lachschuhvariante wähle, nahm ich noch einmal all meinen mut zusammen und schrieb ihr meine idee.

und wieder war ich der glücklichste mensch im universum. wochen später sollte es soweit sein. ich hatte unseren treffpunkt bei einer erkundungsfahrt vorher genau ausgewählt und ihr bilder geschickt, an denen sie sich orientieren konnte. eine sehr kleine tankstelle an einer landstraße im nahe gelegenen ausland sollte der treffpunkt zur gemeinsamen weiterreise sein. fast wie in einem road movie. es war klischeemäßig in etwa auch so heiß an diesem schwülen tag. ich musste länger warten, weil sie in einen größeren stau geraten war. und obwohl ich meine grenzenlose nervosität bis in die haarspitzen spüren konte, gewann irgendwann die hitze des tages. ich schlief im schatten eines baumes liegend im hohen gras ein ...

als ich wieder zu mir kam saß ich am steuer ihres cabrios und fuhr über die autobahn der küste entgegen. ich versuchte irgendwie kontrolle über mich zu bekommen. irgendwie. bloß nicht verfahren. keinen blödsinn reden. die vielen ps bändigen. und vor allem: den wagen auf der straße halten! bleib einfach ruhig. bloß nicht verfahren. keinen blödsinn reden ... ich steckte zum ersten mal in meinem leben in einer blind date situation – und das war alles eindeutig zu viel für mich. wir redeten zum glück nicht. zwei stunden lang. da wir offen fuhren war es dafür ohnehin viel zu laut. außerdem hatten wir das all die monate zuvor auch nicht getan. das hat nie jemand verstanden, bis heute nicht. wir schrieben uns, tausende von zeilen, fast tag für tag. aber keiner von uns verspürte den wunsch zum telefonhörer zu greifen.

jahre zuvor hatte ich während einer uni exkursion dieses unglaubliche hotel gefunden. ich hatte damals keinerlei "verwendung" für diese entdeckung, war mir aber sicher, eines tages an diesen Ort zurück zu kommen. ein bauchgefühl. warum ich diesen "gedanken" hatte weiß ich bis heute nicht. intuition. oder bestimmung. vielleicht. es ist völlig anders als jedes hotel, was ich bis dahin gesehen hatte. mindestens so ungewöhnlich wie die zauberhafte frau die nun neben mir saß. und mit der ich, nach dem abrupten ende der anonymität des internets, auch in der realität noch immer unbedingt ins bett wollte. unbedingt. da gab es nichts drumherum zu reden. unbedingt, aber nicht zwingend. als ich ihr wochen vorher mein zweites anliegen mitgeteilt hatte einigten wir uns auf die variante, für ein paar tage ein hotel zu buchen – und einfach auf gut glück zu sehen, was draus wird. inklusive einer jederzeit möglichen sofort-ausstiegs-variante. richtig geplant hatten wir nichts. es gab verdeckte zweideutigkeiten, aber unsere texte waren bis dahin durchaus jugendfrei.

als wir das zimmer betraten war spürbar klar, dass wir uns beide übernommen hatten. nach wochen des verzögerten kontaktes über ein technisches medium war das nun die maximalste mögliche beschleunigung. sozusagen vom vorschulkindergarten direkt in den darkroom. eindeutig über dem limit. mails sind in echtzeit halt etwas langsamer als so ein direkter augenkontakt im hotelzimmer. wir gingen in die nahe gelegene stadt, eine kleinigkeit essen. inzwischen war ich wenigstens in der lage ihren wagen ohne größere probleme auf der straße zu halten. immerhin. wesentlich mehr war zu diesem zeitpunkt allerdings auch noch nicht drin. wir machten unsere lockerungsübungen gut und fuhren zurück zum hotel. die "pause" hatte ihre erhoffte wirkung gezeigt. jedenfalls konnte ich auf der rückfahrt schon lauthals lachen.

als wir in das hotelzimmer zurückkehrten wurde jeder bis dahin gedachte wunsch realität. vorsichtig und innig, ganz anders als in all den klamottenrunterreiß-filmszenen, die man so mit den jahren auf der leinwand gesehen hat. die zeit stand wieder still. fast still. stundenlang. bis an das ende meines lebens werde ich das klappern der seilabspannungen des großflächigen segeltuch-sonnenschutzes an den unendlich großen fenstern aus allen anderen geräuschen dieses planeten heraus hören. ähnlich dem nicht enden wollenden konzert der spanten der segelboote in einem hafen waren sie die musikalische begleitung der nacht.

als ich am nächsten morgen aufwachte, war meine welt eine andere als noch am tag zuvor. alles sah natürlich noch so aus wie vorher, aber das gefühl war anders. sonne flutete durch das zimmer und wärmte das riesige, mit unzähligen kissen gefüllte, weiß bezogene bett. sie schlief in meinen armen und roch dabei unendlich gut. ich war wohl zum ersten mal in meinem leben zuhause. richtig zuhause. und ich wollte nie wieder weg. dieses unglaublich intensive gefühl in mir war eindeutig. nie wieder. als ich sie einen tag später verließ, wusste ich, dass dieses erlebnis langfristig mein herz brechen wird.

ein, vielleicht zwei wochen vergingen in geradezu endloser, quälend langsam vergehender zeit. ein leben wie in einem honigtopf. alles floß zäh vor sich hin, allerdings mit stark reduzierter süße. aus meiner heutigen erinnerung fuhr ich tagelang auto und hörte die etwas kantigere, aber ungemein kraftvolle live version von in your room von depeche mode. rauf, runter und wieder von vorn. zu diesem zeitpunkt war das stück schon fast zehn jahre alt. ich habe in all den jahren meines perfekten lebens eine situation gesucht, die zu diesem wunderschönen stück passt. und so sehr ich auch suchte, es gab sie nicht. nun hatte ich es erlebt. eine situation die gleichsam langsam und doch voll unbändiger kraft war. willen. sehnsucht. hingabe. wärme. ein raum. die ganze welt in einem raum. sonst nichts.

es kam zum glück anders als ich befürchtete. wir trafen uns wieder. und wieder. immer und immer wieder. in meinen gedanken wusste ich inzwischen, dass mein leben alles andere als perfekt war, ich hatte es über die jahre schlichtweg nicht bemerkt. das ich – egal was "diese" zukunft bringen würde – dringend die reißleine ziehen musste war mehr als offensichtlich. mein leben verlor außerhalb unserer treffen langsam aber sicher jeglichen halt, nichts anderes zählte mehr. aber es gab auch keinen richtigen ausweg. dachte ich. bis ich nach wochen noch einmal all meinen mut zusammen nahm. und die frage aller fragen stellte. es war ein oder zwei tage nach weihnachten. ein denkbar unromatischer, grauverregneter schmuddeltag am eck von rhein und mosel. unter einem knallroten regenschirm. "könntest du, .... also, ich meine, hm ... also könntest du dir irgendwie vorstellen, also .... äh .... du und ich ... äh, hm ... also irgendwann ... irgendwo zusammen ... öh ... also?!". konsequent und auf den punkt gebracht trug ich meine gedanken vor.

sie erlöste mich aus meinem gestottere. und wieder war ich der glücklichste mensch in diesem universum. wir "verzichteten" auf unsere perfekten leben, lösten uns von unserer vergangenheit und gingen einer ungeplanten zukunft entgegen, die sich jede woche neu erfand. es folgten monate. jahre. unzählige wunderschöne hotels, quer durch ganz deutschland. lieben. lachen. festhalten. ganz fest. lieben. ihr wohnort verschob sich berufsbedingt jenseits der autogrenze und die lufthansa wurde zu meiner meistbesuchten internetseite ...

[epilog]

das hotel unseres ersten treffens war früher die letzte station für auswanderer nach den usa. dieser schiffsterminal war sozusagen immer schon der weg in eine neue welt, zu einem neuen anfang. für tausende, wahrscheinlich hunderttausende. nomen est omen, er wurde es auch für mich. die erlebnisse dieses ortes brachten mich schnell an den punkt, mein leben komplett ändern zu müssen – oder emotional für immer zu sterben. ich erinnerte mich an meinen selbstgewählten leitsatz eines kleinen grünhäutigen protagonisten in einem weltraummärchen: "nicht versuchen sollst du, tu es – oder tu es nicht!". ich habe es getan. wir haben es getan. hotels und flughäfen sind inzwischen geschichte. für immer. seit über einem jahr komme ich deshalb morgens zu spät ins büro. mein alter job ist ebenso aus und vorbei wie viele andere materielle und immaterielle dinge, die man in der schublade "lebenslang" verstaut hatte. alles ist perfekt. diesmal. weil es eben nichts mit all diesen dingen zu tun hat. überhaupt nichts. zuhause bin ich seit jahren da, wo sie ist. festhalten. ganz fest. und ein raum mit einem bett. die ganze welt in einem raum. sonst nichts ...


Song des Lebens von Timanfaya
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